Neue ESC-Praxisleitlinien Vorhofflimmern: Was sich geändert hat

Basierend auf:  Kongress der European Society of Cardiology (ESC) 2024, 30. August – 02. September 2024, London

Vier Jahre nach dem letzten Update sind die europäischen Praxisleitlinien zum Management bei Vorhofflimmern wieder aktualisiert worden. Eine Neuerung ist unter anderen ein stärkerer Fokus auf die Behandlung von Begleiterkrankungen.

Beim ESC-Kongress 2024 ist jetzt die aktualisierte Neufassung der europäischen Praxisleitlinien Vorhofflimmern vorgestellt worden, die simultan als rund 100 Seiten umfassendes Dokument im „European Heart Journal“ publiziert wurde. Mitgewirkt an deren Erstellung haben außer der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) noch die Europäische Vereinigung für Herz-Thorax-Chirurgie (EACTS) und sowie die European Heart Rhythm Association (EHRA).

Kernelement der neuen Leitlinien ist ein AF-CARE benanntes Konzept, das zentrale Behandlungspfade im Management von Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern vereint. Dabei steht

  • C für „Comorbidity and risk factor management“
  • A für „Avoidance of stroke and thromboembolism
  • R für „Reduction of symptoms by rate and rhythm control“ und
  • E für „Evaluation and dynamic reassessment“.

Unter „C“ ist das Management von Komorbidität und Risikofaktoren in den neuen Leitlinien ganz bewusst in eine zentrale Position gerückt worden. Zugrunde liegt dabei die Erkenntnis, dass viele Begleiterkrankungen und Risikofaktoren wie Herzinsuffizienz, Hypertonie, Diabetes, Adipositas, Bewegungsmangel und übermäßiger Alkoholkonsum mitbeteiligte Triebkräfte für das Auftreten und die Progression von Vorhofflimmern sein können. Die effektive Behandlung dieser Erkrankungen und die Modifizierung bestehender Risikofaktoren bilden somit die Basis des Managements von Patienten mit Vorhofflimmern.

SGLT2-Hemmer für alle mit Herzinsuffizienz

Dazu gibt es die eine oder andere neue Empfehlung. So wird erstmals nachdrücklich dazu geraten, dass alle Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern, bei denen eine Herzinsuffizienz besteht, unabhängig von der linksventrikulären Auswurffraktion mit einem SGLT2-Hemmer behandelt werden sollen (I A-Empfehlung). Bei Patienten mit Diabetes wird eine effektive Blutzuckereinstellung als Teil eines umfassenden Risikofaktormanagements empfohlen, um Arrhythmie-Rezidive und eine Progression von Vorhofflimmern zu reduzieren (I C).

Eher zurückhaltend ist man noch bei der Empfehlung, zu diesem Zweck auch die Behandlung einer Schlafapnoe in das Management mit einzubeziehen (IIb B). Im Hinblick auf Maßnahmen zur Gewichtsreduktion bei Übergewicht und Adipositas, zur Steigerung der körperlichen Aktivität sowie zur Reduktion des Alkoholkonsums (auf ≤30 Gramm Alkohol pro Woche) ist die Empfehlungsstärke erhöht worden (I B statt zuvor IIa B oder IIa C).

CHA2DS2-VA ist der neue Risikoscore

Unter „A“ beinhaltet die AF-CARE-Strategie die zur Prävention von Schlaganfällen und Thromboembolien bei Vorhofflimmern empfohlenen Behandlungspfade. Hier hat es eine Änderung geben: Zur Abschätzung des Schlaganfallrisiko als Basis der Entscheidung über eine orale Antikoagulation bei Vorhofflimmern soll künftig nicht mehr der CHA2DS2-VASc-Score, sondern der neue CHA2DS2-VA-Score genutzt werden. Die Streichung von „Sc“ (Sc steht für: Sex category) aus dem Kürzel bedeutet, dass „weibliches Geschlecht“ als mit einem Punkt bewerteter Risikofaktor aus dem Score eliminiert wurde. Damit gibt es nun eine einheitliche Form der Risikoabschätzung für beide Geschlechter.

Alle Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Thromboembolie-Risiko sollen zur Prävention von ischämischen Schlaganfällen und Thromboembolien eine oral Antikoagulation (OAK) erhalten (IA). Ein CHA2DS2-VA -Score ≥2 wird nun bei beiden Geschlechtern als Indikator für ein erhöhtes Thromboembolie-Risiko bei der Entscheidung über den Beginn einer OAK empfohlen (I C).  Bisher galt eine OAK bei einem CHA2DS2-VASc-Score ≥2 (Männer) bzw. ≥3 (Frauen) als indiziert. Bei einen CHA2DS2-VA-Score = 1 sollte laut Empfehlung der neuen Leitlinien eine OAK in Betracht gezogen werden (IIaC).

Präferenz für DOAK

Für die OAK bei Patienten mit Vorhofflimmern und erhöhtem Thromboembolie-Risiko werden bevorzugt die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) anstelle von Vitamin-K-Antagonisten (VKA) empfohlen (I A). Ausnahmen sind Patienten mit mechanischen Herzklappen oder Mitralklappenstenose. Im Fall einer OAK mit einem VKA sollte die Zeit im therapeutischen Zielbereich (INR 2,0–3,0) mehr als 70% betragen (IIa A). Lässt sich das nicht gewährleisten, wird bei dafür geeigneten Patienten eine Umstellung von einem VKA auf ein DOAK empfohlen (IB). In der Praxis wird nicht selten die standardmäßige DOAK-Dosis aus Sorge wegen möglicher Blutungen reduziert. Von einer solchen Dosisreduktion wird – sofern keine DOAK-spezifischen Gründe dafür vorliegen – in den neuen Leitlinien ausdrücklich abgeraten, da dadurch nur das Thromboembolie-Risiko erhöht, das Blutungsrisiko aber nicht gesenkt werde (III B).

Bezüglich einer Antikoagulation bei Patienten mit Device-detektiertem subklinischem Vorhofflimmern wird vor dem Hintergrund heterogener Ergebnisse zweier Studien (ARTESIA und NOAH AFNET 6) eine zurückhaltende IIb B-Empfehlung ausgesprochen. Danach kann in solchen Fällen eine OAK mit einem DOAK bei Patienten mit erhöhtem Thromboembolie-Risiko in Betracht gezogen werden, wenn kein erhöhtes Blutungsrisiko besteht.

LAA-Verschluss nach wie vor nur IIb C-Empfehlung

Dem interventionellen Verschluss des linken Vorhofohrs (LAA-Verschluss) als „mechanische“ Form der Schlaganfallprophylaxe wird in den Leitlinien nach wie vor mit Zurückhaltung begegnet. In Ermangelung größerer randomisierter Studien zum Vergleich mit einer DOAK-Therapie, die eine Aufwertung gerechtfertigt hätten, gibt es hier nur eine IIb C-Empfehlung. Demnach kann ein perkutaner LAA-Verschluss bei Patienten mit Vorhofflimmern und Kontraindikationen für eine Langzeit-Antikoagulation in Betracht gezogen werden.

Eine frequenzkontrollierende Therapie wird als initiale Maßnahme in der Akutsituation, additiv zu rhythmuskontrollierenden Therapie oder gegebenenfalls als alleinige Therapie zur Reduktion von Symptomen empfohlen ( IB). Betablocker, Diltiazem, Verapamil oder Digoxin werden dafür als Firstline-Optionen bei Patienten mit Vorhofflimmern und linksventrikulärer Ejektionsfraktion (LVEF) >40% aufgeführt (IB), Betablocker oder Digoxin auch bei einer LVEF ≤40%.

Katheterablation erhält IA-Empfehlung als Firstline-Therapie

Eine rhythmuskontrollierende Behandlung zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Sinusrhythmus (u.a. Kardioversion, Antiarrhythmika, Katheterablation) sollte – in partizipativer Absprache mit dem Patientinnen und Patienten nach adäquater Aufklärung über Nutzen und Risiken (shared decision making) – bei allen dafür geeigneten Patienten in Betracht gezogen werden. In diesem Zusammenhang hat die Katheterablation eine Aufwertung erfahren: Sie wird jetzt mit dem stärksten Empfehlungsgrad als Firstline-Therapie bei paroxysmalem Vorhofflimmern zur Reduktion von Symptomen und Progression der Arrhythmie empfohlen (I A statt zuvor IIa B). Auch Lebensverlängerung kann ein Therapieziel sein !!! Vor dem Hintergrund neuerer Studien wie EAST-AFNET, CASTLE-AF und CASTLE-HTx wird im neuen Leitlinien-Update festgehalten, dass die Behandlungsstrategie der Rhythmuskontrolle nicht nur Symptome und Lebensqualität verbessert, sondern bei ausgewählten Patienten mit Vorhofflimmern auch Morbidität und Mortalität reduziert. So wird etwa eine Katheterablation bei Patienten mit Vorhofflimmern und Herzinsuffizienz des HFrEF-Typs nicht nur zur Verbesserung einer bestehenden linksventrikulären Dysfunktion (I B), sondern auch zur Reduktion von Herzinsuffizienz-bedingten Klinikeinweisungen und zur Lebensverlängerung empfohlen (IIa B).

Mit dem „E“ in AF-CARE (Evaluation and dynamic reassessment) zielen die neuen Leitlinien schließlich darauf ab, dass Vorhofflimmern eine vielen Einflussfaktoren unterliegende und sich verändernde Erkrankung ist, die eine „dynamische“ Betreuung der Patienten erfordere. Empfohlen wird deshalb, sich in regelmäßigen Abständen „proaktiv“ zu vergewissern, ob die getroffenen therapeutischen Maßnahmen noch dem individuellen Risikoprofil sowie den Begleiterkrankungen der Patienten entsprechen.

Patientenzentrierte Herangehensweise

Insgesamt setzen die neuen Leitlinien verstärkt auf eine patientenzentrierte, ganzheitliche Herangehensweise an das Management bei Vorhofflimmern. Die Patientinnen und Patienten sollten durch Aufklärung zu einer selbstbestimmten Mitbeteiligung befähigt werden (empowerment). Ihre Einbindung in die Entscheidung über eine den eigenen Wünschen und Präferenzen nahekommende Behandlung wie auch die Einbeziehung von Familienangehörigen und Betreuern werden als wesentliche Bedingungen für den langfristigen Behandlungserfolg erachtet.

https://www.springermedizin.de/esc-2024/vorhofflimmern/neue-esc-praxisleitlinien-vorhofflimmern–was-sich-geaendert-hat/27678528?utm_source=Update&utm_medium=email&utm_campaign=SM_NL_UPDATE_KARDIOLOGIE&utm_content=Neue%20Vorhofflimmern-Leitlinien:%20Das%20hat%20sich%20ge%C3%A4ndert%20%20%20%20Troponin%20T%20wenig%20aussagekr%C3%A4ftig%20bei%20akutem%20Nierenversagen%20%20%20%20Neue%20Medikamente%20zur%20Gewichtsreduktion&utm_term=2024-09-13&fulltextView=true&tid=TIDP3229821X35E87B0DC80D425390939F9E2DDCE7B1YI4&nl_name=SM_NL_UPDATE_KARDIOLOGIE&nl_date=2024-09-13

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